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Sara Galeotti
Eine Organisationsform, die unsere Einstellung zu Entscheidungen, Gruppenprozessen und Beziehung zu uns selbst verändert.
Soziokratie wurde zuerst in den Niederlanden entwickelt und ist zuallererst eine gemeinschaftliche Organisationsform, die ihre Wurzeln im Positivismus und in den Praktiken der Quäker hat. Heute gibt es , dank vieler Mitwirkender, verschiedene Versionen von Soziokratie. Sie teilen die grundlegenden Prinzipien und die Philosophie, bieten aber verschiedene Verfahren an, von der Holokratie bis hin zu agilen bzw. Lean-Management, zur Soziokratie 2.0 und 3.0. Es handelt sich um freie und offene Ansätze, die eine Struktur zur Gruppen- und Organisationsführung (Skalierung möglich von Teams bis zu - idealerweise - die ganze Welt!) anbietet, mit definierten Verfahren - oder Mustern - um Vorschläge zu erstellen, Entscheidungen zu treffen, Rollen zu definieren und vieles mehr.
Sobald das Training begann, fühlte ich mich in einen viel tieferen Prozess eingebunden, als ich erwartet hatte… Ich hatte zufällig über Monate hinweg immer wieder Leute und Freund*innen gehört, die über Soziokratie sprachen, also entschied ich mich schließlich im Juli 2017 für eine fünftägige Einführung in die Ausbildung zu Soziokratie. Gastgeber des Kurses war das Ökodorf “Il Tempo di Vivere” und Teil des von Erasmus+ finanzierten Projekts “Soziokratie – Stärkung der organisatorischen Kapazität (SEOC)“. Es zielte darauf ab, die Menschen zu befähigen, eine wirksame Leitung in Organisationen, Unternehmen und informellen Gruppen (Quelle: sociocracy30.intranzitie.org) zu entwickeln. Unsere wunderbare Moderatorin war Genny Carraro, zusammen mit einem Expert*innenteam, dem auch Simona Straforini angehörte. Ich erwartete mir von dem Training, ein neues Werkzeug zu erlernen, das ich im Umgang mit Entscheidungsprozessen, die Gruppen unterstützen, einsetzen würde können. Ich bekam aber so viel mehr…
Als erste Aktivität lud uns Genny ein, unsere innere Soziokratie zu erforschen: der Dialog von Stimmen aus unseren verschiedenen Charakteren, den Teilen von uns selbst, die wir in uns tragen. Die Idee dahinter war, dass Gruppenprozesse tiefgehend, komplex und aus vielen verschiedenen Schichten zusammengesetzt sind. Der erste weise Schritt beim Engagement in Gruppenprozessen ist eigentlich Selbsterkenntnis; der Aufbau einer geerdeten, achtsamen Beziehung zu sich selbst. Das war ein großer “Aha-Moment” für mich: Gruppenarbeit ist tief verwickelt in die Beziehungen, die wir zu uns selbst haben.
Während des gesamten Trainings – und seither – ging es also mehr um meinen persönlichen Prozess statt um Gruppendynamik. Ja, wir haben verschiedene soziokratische Methoden, Verfahren, Analysen im Detail praktiziert; aber was mich berührt und am meisten verändert hat, waren die persönlichen Konflikte, die ich erlebt habe mit anderen Menschen, während sie versuchten, ein neues Werkzeug zu erlernen. Um es in ein paar Worten auszudrücken: dieses Werkzeug, das sich durch komplexe Verfahren und Schritt für Schritt Strukturen auszeichnet, ist konkret und handlungsorientiert; und gleichzeitig hat es mehr mit persönlichem Wachstum zu tun, als viele andere Ansätze, die anscheinend direkt mit unserer inneren Welt zu tun haben.
Jetzt nutze ich Soziokratie als Facilitatorin mit Gruppen und zum Leiten und Koordinieren einiger Projekte, an denen ich beteiligt bin. Ich bin keine Expertin und anstatt der vollständigen soziokratischen Strukturen benutze ich nur einige der Werkzeuge und Verfahren auf eine leichtere Art und Weise. Dennoch hat mir das Festhalten an diesem Verfahren viele neue Einsichten gebracht. Zum Beispiel arbeite ich mit einer Gruppe junger Menschen zur Regenerierung eines öffentlichen Ortes. Die Gruppe musste ihr Projekt der öffentlichen Verwaltung vorstellen und wir mussten entscheiden, wer es präsentieren sollte. Ich muss zugeben, dass ich als Tutorin der Gruppe meine eigene Idee dazu hatte, wer es hätte tun sollen, aber in diesem Fall entschieden wir mittels soziokratischen Verfahrens zur Definition neuer Rollen. Völlig unerwartet fiel für mich die endgültige Entscheidung auf die zwei Personen, die die Präsentation halten sollten; eine davon war eine schüchterne junge Frau, die nicht besonders gut Italienisch sprach. Sie beschloss, aus ihrer Komfortzone herauszutreten und die Präsentation zu übernehmen, weil sie von der anderen Person unterstützt wurde. Eine solche ermächtigende Win-Win-Situation, sowohl auf der persönlichen als auch auf Ebene der Gruppe, hätte ich als Tutorin nicht in Betracht gezogen.
Neben den Verfahren gibt es auch einige “Mantras” oder Grundprinzipien, die meine Einstellung zu Entscheidungsprozessen verändert haben. Das erste ist, dass eine Entscheidung „gut genug für jetzt und sicher genug, um es zu versuchen” sein soll. Nicht unbedingt die beste Entscheidung, nicht eine endgültige, ewig währende Entscheidung. Aber eine Entscheidung, die gut genug ist, um sie zu testen und anzupassen, basierend auf unserer Erfahrung, und zwar eine, die sicher genug ist, so dass ein mögliches Scheitern nicht allzu riskant ist. Sowohl Unvollkommenheit als auch Zeit sind in den Entscheidungsprozess mit eingebunden; zwei Dimensionen, die zu bedenken ich nicht gewohnt war, in der üblichen Art und Weise, wie ich mit Entscheidungen als etwas Definitives und Entscheidendes umgegangen bin, was oft viel Druck in den Prozess brachte.
Ein weiteres Mantra, das ich liebe, ist “mache schnell Fehler und wende”. Fehler sind ein großartiges Lernwerkzeug, wenn wir sie zulassen und wenn wir flexibel genug sind, uns zu wenden, können wir die Richtung mit einem leichten Herzen und Verstand ändern. Für mich ist die letzte brillante Erkenntnis, wie die Soziokratie Einwände versteht: ein Einspruch gegen einen Vorschlag ist ein Geschenk an die Gruppe. Die dazu verwendete Geste zeigt eine geschlossene Faust, Finger auf, bereit zum Öffnen, als ob Sie einem geliebten Menschen eine Überraschung bringen würden. Das bedeutet, dass, wenn man Einwände hat, man wirklich auf eine bessere Lösung für die ganze Gruppe abzielt. Alles, was wir jetzt tun müssen, ist, es zu versuchen!
Wie fühlst du dich, wenn du mit Gruppen oder Gruppendynamik arbeitest? Was sind deine wiederkehrenden Muster?
Wie ist dein Verhältnis zur Perfektion?
Hast du jemals angehalten, um über die Kultur der Gruppen nachzudenken zu denen du dazu gehörst? Als einfache Aktivität kannst du dich für eine dieser Gruppen entscheiden: Deine Familie, deine Arbeitsumgebung, einem Verband, dem du angehörst. Notiere die Werte, Prinzipien und Muster, die ihr als Gruppe teilt. Sowohl die expliziten - die, über die diskutiert wird und auf die ihr euch geeinigt habt - wie die unsichtbaren Werte oder Gewohnheiten, die dir/euch vielleicht nicht immer bewusst sind.
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